Leseprobe: Wiedersehen in Barsaloi

Endlich

Es ist so weit. Fast vierzehn Jahre sind seit meiner Flucht aus Nairobi mit meiner damals eineinhalbjährigen Tochter Napirai vergangen, und jetzt sitze ich im Flugzeug, das mich erstmals wieder nach Kenia bringen wird. Meine Gefühle sind in Aufruhr: Mal zieht und kribbelt es vor freudiger Erregung im Bauch, mal lässt eine seltsame Beklemmung meine Hände feucht und klebrig werden. Vor Aufregung könnte ich weinen und im nächsten Moment loslachen.

Bange Fragen schwirren in meinem Kopf herum. Wie werde ich mein einstiges Zuhause vorfinden? Was ist geblieben? Was hat sich verändert? Ist etwa der Fortschritt und der damit zum Teil verbundene hektische Lebensrhythmus schon so weit nach Kenia vorgedrungen, dass ich die Menschen und das Dörfchen Barsaloi im Norden Kenias nicht wiedererkennen werde? Vor vierzehn Jahren gab es dort nur die Mission, etwa acht Holzhäuschen, unseren gemauerten Shop und einige Manyattas, die traditionellen runden und mit Kuhdung verputzten Behausungen der Samburu…

Mama

Wir stehen direkt vor ihrer Hütte. Gerade möchte ich mich bücken und in den kleinen Eingang kriechen, als James mich zurückhält und flüstert: „Nein, nein, lass Mama herauskommen, sonst könnt ihr euch in der engen Hütte und dem beissenden Rauch gar nicht richtig begrüssen, und Mama hat einen Grund, wieder einmal aus der Hütte zu kommen.“

Er spricht ein paar Maa-Sätze in Richtung des Eingangs und dann höre ich, wie sie sich aufrappelt, um kurz darauf in gebückter Haltung aus der Manyatta zu kommen. Endlich steht sie vor mir – nach über vierzehn Jahren! Überwältigt stelle ich fest, dass sie sich in der langen Zeit kaum verändert hat. Ich hatte sie mir viel älter und schwächer vorgestellt. Stattdessen steht mir eine stattliche und überaus würdevolle Mama gegenüber. Wir strecken uns die Hände entgegen und, während diese ineinander greifen, schauen wir uns stumm und doch vielsagend an.

Mein Gott, was hat diese Frau für eine Aura! Ich versuche, in ihren trüben Augen zu lesen. Es entspricht nicht der Kultur der Samburu, sich überschwänglich in die Arme zu fallen und Gefühlsregungen zu zeigen. Starke Gefühle versuchen sie zu unterdrücken und schauen dabei ernst und regungslos vor sich hin. Wir halten uns immer noch an den Händen und es kommt mir wie eine Ewigkeit vor. Ich möchte ihr so gerne sagen, wie wichtig mir dieser Besuch ist. Dass ich all die Jahre intensiv gehofft habe, ihr eines Tages noch einmal gegenüberstehen zu dürfen. Dass sie zu den wichtigsten Menschen in meinem Gefühlsleben gehört und noch vieles mehr. Stattdessen stehe ich stumm da und kann nur mit dem Ausdruck meiner Augen und dem Herzen sprechen.

Plötzlich streckt sie ihre rechte Hand aus, ergreift mein Gesicht, drückt zärtlich mein Kinn und flüstert: „Corinne, Corinne, Corinne!“ Dabei lächelt sie glücklich. Jetzt ist der Bann gebrochen. Ich umarme sie und kann nicht anders, als ihr einen Kuss auf ihr graues Haupt zu drücken. In diesem Moment bin ich unbeschreiblich glücklich darüber, dass ich den Mut gefunden habe, hierher zurückzukommen. Ich spüre, dass es auch für sie ein sehr bewegender Moment ist.

Aufgewühlt und ergriffen von der Begegnung mit Lketinga und mit Mama, rede ich nun einfach drauflos, um gegen die aufsteigenden Tränen anzukämpfen…

Wiedersehen in Barsaloi

978-3-426-77893-7

 

Wiedersehen in Barsaloi – Leseprobe

Updated on 2015-06-25T14:07:01+02:00, by Corinne Hofmann.

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